Sonntag, 22. Juni 2008

Endlich Musik...

lautete ein Kommentar auf amazon.de auf der Seite der CD Russendisko. Was seit einigen Jahren Europa überrollt, hat meiner Ansicht nach das Zeug zu einer ähnlichen Welle zu werden wie damals als Anfang der 90er aus einer Stadt namens Seattle Grunge seinen Ursprung hatte. Nur heisst die Stadt heute Berlin, die Musiker kommen aus Osteuropa, auf der Bühne gibt es ausser E-Gitarre, Bass und Schlagzeug noch Trompete, Geige und Akkordeon und die Stars heissen nicht Kurt, Eddie und Scott, sondern Oleg, Emir und Kolja. Doch so unterschiedlich die beiden Musikrichtungen auch sein mögen, beide haben Leben und unbändige Energie in die siechende Musikszene gebracht, es macht wieder Spass auf Konzerte zu gehen, mit Gleichgesinnten fachsimpeln, in Plattenläden nach noch unbekannten Bands zu suchen und Kompilations des Genres zu kaufen, um die Perlen abzugreifen.

Dabei gibt es nicht mal einen richtigen Namen für diese Welle. Wenn man eine CD einlegt, zeigt iTunes meistens als Musikrichtung "World" an. Nun, Weltmusik das ist auch Buena Vista Social Club, Manu Ciao und Youssou N'Dour und Hubert von Goisern und Khaled mit seiner Aischa, da denkt man eher an afrikanische Trommeln, arabische Gesänge, entspanntes Tanzen mit Haschschwaden in der Luft, aber nicht an wildes Springen und Pogo und die rohe Kraft einer Bläserkapelle. Wenn die Bands in den Booklets genauer beschrieben sollen, da hagelt es mit Begriffen wie Balkanbeats, Zigeunerpunk, Sovjetabilly, Ska, Neues Klezmer, Folk Rock usw, usf. Vielleicht ist auch nicht ganz einfach da einen Label zu finden, denn so gut wie jede Band hat eigene Geschichte, eigene Einflüsse, mal sind es Klezmer-Melodien, mal Songs komplett vergessener Völker wie Hutsulen, mal Zigeuner-Rhythmen, mal Sowjetpop oder Gangsterromancen der 20er Jahre, das alles gemischt und mit Ska, Jazz, Elektro, Hardcore und Dance gekreuzt, eine wichtige Zutat ist immer Punk, im vollen explodierenden Sinne dieses Worts, Piff, Paff, Punk, ein Konzert bei dem die Zuhörer auf den Stühlen sitzen bleiben und nicht etwa drauftrampeln, braucht gar nicht gespielt zu werden, die aufgenommenen CDs ist nur ein schwaches Abbild davon, wie es ist, sich in die Menge zu stürzen und wild zu tanzen.

Wie hat es denn angefangen? Da kann ich nur aus meiner eigenen Perspektive berichten, jeder, der sich mit der Szene besser auskennt, wird mich sofort eines besseren belehren, wie es denn wirklich anfing, deswegen stelle ich erst gar nicht den Anspruch die allgemeingültige Geschichte zu erzählen.

Vor ca. 8 Jahren vergaß mein polnischer Freund Arek die Kassette Kayah & Bregovic bei mir mit dem Lied Prawy do lewego, das auf polnischen Hochzeiten zu wildesten Tanzausbrüchen führt. Goran Bregović, der sich als Jugoslave bezeichnet, wurde in Europa als Filmmusiker für Filme von Emir Kusturica (über ihn etwas später) und die Bartholomäumnacht berühmt, doch geht er auch als Musiker mit einem 50-köpfigen Wedding and Funeral Orchester auf Tourneen. Seine Musik ist die Musik des Balkans, mit viel zigeunereschen Kompositionen, mit neuen Arrangements, doch ohne viel Vermischung mit westlicher Musik.

Lange Zeit später bekam ich von meinem bosnischen Kollegen Dario CD Emir Kusturicas & The No Smoking Orchestra Unza Unza Time. Punk trifft Polka trifft wieder Zigeuner-Rhythmen, gesungen wird auf Deutsch, Englisch, Serbokroatisch, ein Getrauert-und-Gestorben-wird-später Meisterwerk, jetzt wird es erstmal heftigst getanzt. Kusturica, wuchs in Sarajevo auf, studierte auf Prager Filmhochschule und drehte ein paar berühmte Filme (von denen wie ich zu meiner Schande gestehen muss, noch keinen einzigen gesehen habe). Seine Musik ist rockig, auf der Bühne erklärt er schon mal, dass nach dem ersten Lied die Band keine Lust mehr hat, ernsthaft zu spielen und ab jetzt nur noch Blödsinn gemacht wird, was den aufgedrehten Zuschauern auch recht ist.

Der dritte im Bunde der berühmten Jugoslaven ist der King of the Serbian Trumpet Boban Marković. Seine Truppe besteht fast ausschliesslich aus Blasinstrumenten, die Musik spielen, die man auf den Namen Balkan Brass getauft hat. Boban und sein Sohn Marko sind noch die traditionellsten Musiker, die die alten Melodien neu arrangieren und virtuos spielen.

Vorhin habe ich geschrieben, dass die Hauptstadt der neuen Musik Berlin sei, doch haben die drei Musiker mit Berlin nicht viel zu tun. Dafür lebt dort Wladimir Kaminer, der 1990 aus Russland nach Berlin kam, ohne einen Pfennig in der Tasche und ohne ein Wort Deutsch zu sprechen (so die von ihm selbst erzählte Legende). Er tat sich mit Yurij Gurzhy zusammen und veranstaltete in Berliner Club Kaffee Burger eine Partyreihe genannt Russendisko. Bald gab es ein Buch Russendisko, das im Still Kishon trifft auf sowjetische Humoristen geschrieben ist und eine Kompilations-CD auch Russendisko Hits genannt. Von keiner der 16 Bands auf der CD hat man vorher was im Westen gehört und alle haben einen Feuer gezündet, wie man es schon lange nicht mehr gespürt hat. Viele der Bands sind original aus Russland, einige haben sich erst im Ausland zusammengefunden, als die grosse Ausreisewelle in den 90ern viel Intelligenz aus Russland mitnahm. Es folgten Kompilation-CDs Russensoul und Russendisko

Im Fall von Shantel war es anders, er hat seine kulturellen Wurzeln erst auf der Reise durch die Länder seiner Vorfahren Bukovina (heute Teil von Rumänien) entdeckt, und daheim in Frankfurt angekommen erfand er den Bucovina Club in Frankfurt, eine Partyreihe, bei der eine Mischung aus Dance und Balkansound gespielt wurde. Doch hatte Berlin bald die Nase vorn, in Mudd Club wurden die Balkan Beats gespielt, die auch schon bei der dritten Kompilations-CD angelangt sind, wo das ganze Europa Mikro in die Hand nimmt, denn das Phänomen schwappte längst aus Deutschland wieder zurück auf Balkan und fand auch in Frankreich und Russland zahlreiche Anhänger.

Nachfolgend noch ein paar Bands, die ich vorstellen möchte und deren Konzerte immer ein Besuch wert sind.

1. Zdob Si Zdub kommen aus Moldawien und haben etwas vielleicht etwas viel MTV geguckt und zwar Alternative Nation. Haben mit Hardcore angefangen, bis sie sich des musikalischen Schatzes ihres Landes bewusst wurden und Trompeten einsetzten. Klingen wie Rage Against the Machine beim Zigeunertabor. Haben bei der Eurovision teilgenommen und einen der vorderen Plätze belegt. Sind absolute Superstars in Russland, Rumänien und Moldawien. Die beste Textzeile bis dahin: Mister Gorbatchow you should drink some wine, meet Gagarin in the space of time.

2. Leningrad ist eine Ska-Punk-Band aus St.Petersburg, die für ihre anrüchige Texte (die Interviews des Sängers Schnur sind dafür erstaunlich jugendfrei) und einen fetten Aufpasser auf der Bühne bekannt ist. In dem bekanntesten Lied der Band besingt sie ihre eigene Internetadresse www.leningradspb.ru.

3. Dobranotch aus St.Petersburg spielen Instrumentals aus Klezmer und serbisch-moldauischen-ukrainischen traditionellen Melodien, die sich als sehr tanzbar herausstellen, sogar verwöhnten Münchener waren irgendwann mal alle auf den Beinen und forderten mindestens 4 Mal Zugabe.

4. La Minor kommen auch aus St.Petersburg und sind häufig in München anzutreffen. Sie singen Verbrecherballaden aus den 20-30er Jahren des letzten Jahrhunderts auf eine unwiderstehliche Art, so dass man sofort das Tanzbein schwingen möchte, obwohl die Texte alle recht tragisch enden, aber zum Glück verstehen das in Deutschland die wenigsten.

5. Oy Division aus Tel Aviv spielen herzergreifenden Klezmer, aber mit Punk-Energie auf der Bühne. Singen auf Jiddisch und Russisch.

6. RusSKAja aus Wien (daher einheitliche roten KuK-Uniformen) haben das Publikum in Griff, wie ich es noch nie gesehen habe. Die Musik ist Ska, mit etwas russischen Pop/Rock-Import, aber die Konzerte selbst sind viel interessanter als die Musik an sich. Die Geigerin Antoschka ist süß anzusehen, der Schlagzeuger bittet vor dem Konzert um die Würdigung des Glücksgefühls, das uns überschwemmen wird (womit er absolut Recht hat) und spätestens nachdem die deutsche Menge headbangt und "Za-po-ro-zhez" brüllt (der kleine häßliche Bruder von Trabbi), wird es klar, dass diese Band sich richtig viel Gedanken um die Show gemacht hat. In diesem Sinne "Dajte mne zvuki druzja" - "Jaaaa!!!"

7. Bloody Kalinka ist eine typische Band aus der Multi-Kulti-Stadt Berlin. Die Sängerin Lenotchka arbeitet tagsüber bei dem BKA und bekennt sich abends der Liebe schuldig. Der Kopf/das Herz der Gruppe Kolja Bajan kommt aus St.Petersburg, spielt Akkordeon und hat mit seiner anderen Band Dr.Bajan über die Russendisko einige Bekanntschaft erlangt. Der Schlagzeug kommt aus Polen, der Rest der Gruppe ist auch sehr bunt gemischt. Entsprechend ist das Repertuar, russische Romancen mit Punk-Speed vorgespielt, bekannte russische Lieder neu arrangiert, der Hit ist übrigens ein Lied namens "Schönhausener Allee"

8. Socalled aus Kanada ist für seine seltsamen Videos bekannt. Benutzt Klezmer für Samples für seine E-Musik, die irgendwo zwischen HipHop und Pop liegt. Hört sich alles sehr ungewohnt an, war leider noch auf keinem Konzert. Beste Zeile: My god gonna kick your god's ass

9. Gogol Bordello kommen aus New York, sind Busenfreunde von Madonna und spielen sehr rockige Zigeunerrhythmen auf Englisch mit übelstem Akzent. Die Musik ist nicht ganz mein Fall, treibt den Puls auf jeden Fall gehörig in die Höhe.

10. Markscheider Kunst aus St.Petersburg hörten wohl mal auf den Ratschlag des DJ Jannik, als er gedankenversunken zwischen zwei Jointzügen meinte sinngemäß : "Das wichtigste an der Musik ist Rhythmus und die Kubaner haben ihn erfunden". Markscheider Kunst spielen unschuldige Tanzmusik, mischt Ska mit Latino, singen entspannt auf Russisch und sind häufig in Europa anzutreffen. Vor den Konzerten am besten einen Tanzkurs besuchen.

Es gibt noch viele andere Bands wie Vopli Vodoplyasova mit ihrem charismatischen Sänger Oleg Skripka, Distemper mit dreckigen Riffs und Bandmitglied, der mit einem Hundekopf in die Zuschauermenge reinspringt, 5Nizza, die russisches Reggae zum besten geben, der Exzentriker von Magnifico und viele mehr. Also viele CDs anzuhören, viele Konzerte zu besuchen, viel zu entdecken. Es bleibt spannend.

Keine Kommentare: